Start Text- und Übersetzungsbeispiele
Text- und Übersetzungsbeispiele

LITERATUR (PROSA):

Die Ereignisse außerhalb dieses Zimmers


Selbst wenn ich mich zu meinem immerhin möglichen eigenen Vorteil entschließe, dieses mir so vertraut gewordene enge Zimmer nach langen und deshalb nicht im Geringsten minder schmerzlichen, ja geradezu entkräftenden Überlegungen doch und höchstwahrscheinlich endgültig zu verlassen - denn die Rückkehr wäre nur das bittere und ohnmächtige Eingeständnis des nochmaligen Scheiterns an einer anders festgelegten Umgebung -, bin ich mir bewusst, dass ich es anfangs auch anderswo schwer haben werde, zumindest in ein Zimmer zu gelangen, das dem jetzigen gleichwertig wäre, doch es ist einfach so, dass mir dieser nur scheinbar zufriedene Zustand allmählich nicht einen Augenblick länger aushaltbar scheint, da die Ereignisse außerhalb dieses Zimmers in mein vermeintlich geschütztes Zimmer immer häufiger völlig ungehindert einzudringen vermögen. Eine weitere erfolgreiche Abkapselung zeigte sich nach vielen schon krampfhaft gewordenen Fehlversuchen als derzeit aussichtslos, und nicht das Geringste weist darauf hin, dass sich die schlimme Zeit bald zum einigermaßen Guten wenden könnte oder dass die Fremdbelästigung wenigstens auf ein erträgliches Maß zurückginge. Ich fand mich also nach langem, vielleicht schon zu langem, aber gewohnheitsmäßigen Zaudern mit dem Gedanken irgendwie ab, auszuwandern. Ratlos hockte ich vorm Atlas, überlegte zunächst, in welchen Ländern ich Verwandte, Bekannte, womöglich gute Freunde, wenn es die überhaupt gibt, hätte. Es waren Länder, von denen ich allerhand aus meines Erachtens zuverlässigen Quellen wusste, in denen ich mich, als es noch selbstverständlich und ohne Hindernisse möglich war, zum Teil häufig und länger aufhielt, die ich also aus eigener Anschauung einigermaßen genau kannte. Mit Unwillen musste ich jetzt feststellen, was mich früher nicht im Leisesten berührte, würde mich unvermittelt durch meinen womöglich voreiligen Entschluss angehen, wenn ich mich in dieses oder jenes Land begäbe.
Ich stünde unter anderen Gesetzen, bürdete mir andere Verpflichtungen dem neuen Notwahlstaat gegenüber auf. Man könnte mich, bedachte ich, schrecklichstenfalls, was ich vorerst nicht in Erwägung ziehen will, zurück in die Fänge meiner Heimat schicken, sollte man mich wegen der bereits gänzlich überfüllten Flüchtlingslager als Emigranten nicht mehr aufnehmen können. Dann die harten Strafen in der Heimat, womöglich die Hinrichtung, da es offenkundig geworden ist, dass ich in Wirklichkeit ein arger Staatsfeind, ein Verleumder der angeblich im Überfluss genossenen Zuneigung des Vaterlandes sei, der früher unverständlicherweise trotz des zuverlässigen Geheimdienstes - man wird ihn wieder einmal genau in Augenschein nehmen müssen - allzulange Staatsfreundschaft vorheuchelte. Diese Überlegungen machten mir alsbald deutlich, dass mir am verlockendsten jene Staaten erschienen, von denen ich überhaupt nichts wusste, und deren Namen im Rundfunk ungenannt blieben, denn ein Staat, den man nicht zu erwähnen braucht, kann in keiner Krise stecken, wovon sonst sollte man berichten. Krisen flackerten stets nur in jenen Ländern auf, von denen die Rede war. Jene Staaten, die ständig im Zentrum der Medienaufmerksamkeit standen, befanden sich selbstverständlich in schweren und überaus blutigen Dauerkrisen. Unglücksbotschaften überstürzten sich und die Sondermeldungen wollten nicht mehr abreißen. Das geplante Programm kam schon durch Wochen hindurch nicht mehr zustande. Ich schrieb mir beunruhigt die Namen einer größeren Anzahl von Inseln auf, die mir durch verschiedene Umstände verlockend erschienen, obwohl ich überhaupt noch nicht wusste, wie ich es bewerkstelligen könnte, dorthin zu gelangen. Die Hauptschwierigkeit galt es zu überwinden, nämlich die angeblich absolut hermetische Grenze unentdeckt zu überschreiten. Der Überwindung dieser ersten Hürde meines aberwitzigen Unternehmens folgt noch eine ganze Reihe andere Hindernisse, an die ich nicht denken will. Einige Inseln waren mir durch den Reiz des fremden Klanges ihrer Bezeichnung lieb, einige aus der flüchtigen, aber nachhaltigen Vertrautheit aus Romanen und alten Reisebeschreibungen, andere wegen der dort vorkommenden seltenen Tierarten. Aber wie war heute die Lage auf diesen Inseln, scheinbar fern der Zivilisation. Vielleicht trieb ein Feind des James Bond sein Unwesen auf einer einsamen Insel, um die Welt in Atem zu halten. Bei all dem hatte ich Angst, ich könnte meinen wirklichkeitsfremden Knabenträumen, die plötzlich aufs Neue erwacht waren, nachrennen. Flucht also aus der Wirklichkeit, weil ich vermeine, sie nicht mehr aushalten zu können. Die meisten aufs Land, ich halt in die Südsee.
Jedenfalls hatte ich meine Bedenken, ob es sich überhaupt lohnt. Was lohnt sich letztlich? Ich war bestrebt, genaue oder zumindest halbwegs genaue Informationen über weit entlegene Landstriche einzuholen, mit denen ich unter gewöhnlichen Umständen nie in Berührung käme. Ich habe Angst, dass ich bei meiner gründlichen Vorbereitung auf Berichte von Reiseschriftstellern stoße, die das außergewöhnlich bildhaft beschriebene Land nie gesehen haben und ich vertraue so einem phantasiebegabten Karl May voreilig auf Gedeih und Verderb.
Ich nehme an, das Leben verläuft überall ähnlich, da mehr unterdrückt, dort vielleicht etwas weniger. In der nahe gelegenen Universitätsbibliothek erwies sich die Informationssuche als gänzlich überflüssig, denn nur einige 70 bis 100 Jahre alte Wälzer standen zur Verfügung, und eigneten sich ganz gut als Lektüre für Historiker oder Nostalgiker, nicht aber für mich in meiner nun großen Not. Die Reisebeschreibungen von James Cook, Charles Darwin, William Dampier hatte ich selbst in meiner kleinen Bibliothek. Ich griff nach den Büchern und entschloss mich, heute abend mit der Lektüre des Romans "Die Abenteuer des Louis Blake" von Louis Becke zu beginnen. Mein immerhin vielbändiges Nachschlagewerk war über die betreffenden Inseln so lakonisch, dass man sich keine rechte Vorstellung bilden konnte. Die zuweilen beigefügten aus den fünfziger Jahren stammenden Fotografien waren wohl für Touristen bestimmt, nicht aber für mich, der ich die Absicht hatte, mich dort für länger oder sogar ständig niederzulassen. Mir fielen Paul Gauguin, Robert Louis Stevenson, Max Dauthendey, Daniel Defoe, Joseph Conrad ein. Namen, die mich mit vergeblicher Sehnsucht erfüllten. Ich mühe mich angestrengt, noch eine Zeit lang auszuharren, obwohl es mich von dieser gebirgigen und eisigen Gegend fürchterlich wegzieht, hinzieht, in eine tropisch wuchernde Natur. Man wird eigentlich ein Narr, heißt es in einem Buch, sobald man den Fuß vor die Tür setzt, und auch: am besten ergeht es dir noch in der Heimat. Sollen mich diese Sprüche davor bewahren, mich in ein dummes Abenteuer in meinen Jahren zu stürzen, um irgendwo in der Südsee zu stranden, ähnlich jenen heruntergekommenen Europäern in so manchem Roman. Aber es ist ja tatsächlich nicht so, dass ich irgendwelchen unvernünftigen Illusionen erliege. So wie ich schon lange mit keiner Überraschung rechne, wenn ich frühmorgens mein Zimmer, mein Hotelzimmer verlasse, so knüpfe ich auch an kein fremdes Land eine maßlos übertriebene Hoffnung. Vorzeiten befielen mich zuweilen Zweifel, aber durch die tägliche Rückkehr spätabends gründlich belehrt, weiß ich mit verstärkter, geradezu unumstößlicher Gewissheit, dass Skepsis gegenüber meiner bereits erworbenen Einsicht sinnlos, ja ein Selbstbetrug wäre. Trotzdem soll man sich nicht wundern, wenn man mir zufälligerweise auf der Straße begegnen sollte, denn ich frequentiere sie ohne Hoffnung auf Abenteuer oder Abwechslung. Gehen, vor allem rasches Gehen, ist überhaupt ein ausgeklügeltes Verhalten, besondere Eile und Geschäftigkeit vorzutäuschen, während man eigentlich nur versucht, die Langeweile möglichst schnell abzuschütteln und sie sozusagen auf die Straße zu spucken, damit sie jemanden anderen anfällt. Gehen bringt überhaupt keine Einsichten. Gehen verhindert geradezu Einsichten. Es ist nicht dasselbe, über das Gehen nachzudenken, oder sozusagen grundehrlich zu gehen. Die Einsichten selbst über das Gehen kommen einem nicht beim Gehen, sondern beim Innehalten, beim Stehen, ausdauernden Sitzen und Liegen. Es ist vollkommen klar, dass andere Probleme auftauchen, wenn man geht oder zum Beispiel sitzt oder liegt. Während des Militärdienstes etwa marschiert man vor allem und denkt überhaupt nicht oder doch kaum. Vor lauter Marschieren hat man wirklich keine Zeit zu denken, wobei, nebenbei bemerkt - ohne jemandem nahetreten zu wollen -, zu diesem Zeitpunkt denken überhaupt ungesund ist, denn die Überanstrengung, die aus dem scheinbar immerwährenden Gehen und zusätzlichen anstrengenden Denken resultiert, kann nur zu Kurzschlusshandlungen führen. Bei großen Gebirgsmärschen zum Beispiel ist man mit allergrößter Mühe gerade noch imstande, die Hosentüren weit aufzumachen, um zwischen den Beinen nicht so schrecklich ins Schwitzen zu geraten. So entgeht man buchstäblich durch die Luftkühlung - auch bei Windstille - verursacht durch die immerhin sehr rasche Vorwärtsbewegung, den gefürchteten Hautreizungen, die unter der erschreckenden Bezeichnung "Wolf" berüchtigte Bekanntheit erlangt haben. Blutige Fersen sind sowieso nicht zu umgehen, und die sind natürlich nicht besonders schmerzhaft. Die Haut da unten ist ja dafür geschaffen und sowieso manches gewohnt. Mit der Zeit vergeht dieser Fersenschmerz ohnehin und verwandelt sich sogar bis zum Marschende in ein weiches stechendes, aber doch irgendwie angenehm prickelndes Gefühl. Die Reizungen zwischen den Beinen aber werden von Schritt zu Schritt heftiger, man glaubt, ein Wolf habe sich zwischen die Beine verbissen oder beiße immer aufs Neue zu. Was soll man da schon über Gott und die Welt denken, angesichts dieser wölfischen Tatsache, die man über jeden Neuling hereinbrechen lässt. Denn hab ich gelitten, leide auch du. So vererbt man Leiden und die Tradition, andere leiden zu lassen, ist alt und einigermaßen raffiniert. Je mehr man selbst gelitten hat, desto mehr kann man auch andere leiden lassen. Denken und gehen sind eben zwei sich ausschließende Vorgänge. Ich werde hoffentlich nicht auf der Strecke bleiben, auf der schrecklichen Schneestrecke einer imaginierten und durchexerzierten Kriegszeit, bei der allein das Gehen und nicht das rechtzeitige Denken das Leben rettet. So trainiert man für den Ernstfall, um ihm nicht völlig unvorbereitet ausgeliefert zu sein. Ich werde unter der Last des Gehens das Denken aufgeben, nein, ich werde mein Denken allein in den Dienst des Gehens stellen, um zumindest diese eine Übung zu überleben, sonst schaffe ich es überhaupt nicht, einen weiteren schicksalsentscheidenden Schritt zu machen. Gehen muss man bis in den Schlaf, bis in die Ohnmacht, bis in den Tod. Ich habe mich entschieden, mein Hotelzimmer nicht zu verlassen, das meiner Meinung nach kein Hotelzimmer sein kann. Ich werde unabhängig weiterdenken, weiterfühlen. Ich werde warten, bis das nicht mehr möglich ist. Ich werde warten, bis sie mich holen, bis sie mich verhaften und aus der Gesellschaft der Aufrechten ausschließen. Ich schreibe das alles im Bewusstsein, dass das Erzählte glücklicherweise derzeit reine Erfindung ist.

Das Ende


Ich habe mich noch immer nicht getraut, meine eigene bewegte Geschichte zu erzählen, obwohl ich inzwischen schon 66 Jahre alt geworden bin und eigentlich nicht mehr viel zu befürchten habe. Sicherlich ich hänge noch immer an meinem Leben und möchte es nicht gefährden - den anderen Gründen sei hier nicht nachgegangen. Dieser Scheu wegen schlüpfe ich immer wieder in andere Lebensschicksale und stelle sie so dar, als wären sie meine eigenen, obwohl ich nicht im Geringsten weiß, ob ich sie halbwegs richtig wiedergebe. Selbst darüber bin ich im Ungewissen, ob ich überhaupt die Wahrnehmungen und Empfindungen anderer einigermaßen zuverlässig nachvollziehen kann oder konnte. Ich werfe alle meine Bedenken in dieser Beziehung über Bord und beginne so zu schreiben, als seien mir diese düsteren Schicksalsschläge widerfahren. Soviel zu meinem waghalsigen Vorgehen, damit unausweichliche Unstimmigkeiten im Text eine minimale Erklärung bekommen. Die Ereignisse erscheinen dann - das hoffe ich, obwohl ich nur Zeuge dieser furchterregenden Veränderungen geworden bin, auch wenn ich sie als mir zugestoßen erzähle - dem Rezipienten doch einigermaßen authentisch.

Ich schildere alles im Zeitraffer, damit ich in der gebotenen Kürze ein einprägsames Bild der Vorgänge entwerfen kann. Niemand bringt als Unbeteiligter die Geduld auf, Geschehnisse, die sich über zumindest zwei Jahre hinzogen, so detailliert erfahren zu wollen, wie sie sich tatsächlich zugetragen haben, überhaupt wenn man sich von so einem durchaus möglichen Schicksal noch viele Jahrzehnte entfernt fühlt oder es für sich selber als nicht vorstellbar erachtet.

Eines Tags erwachte ich und erkannte mich nicht mehr. Auch meine Umgebung ist mir plötzlich völlig fremd gewesen. Den Fernseher konnte ich nicht mehr einstellen, auch wenn man mir stundenlange Einschulungen angedeihen ließ. Vieles, wenn nicht alles ist mir schwergefallen, eigentlich bin ich der Technik gegenüber weitgehend hilflos geworden. Gewisse lebenslang ausgeübte Tätigkeiten konnte ich noch, wohl nur im Unterbewusstsein verrichten, wie z. B. die Wohnungstür auf- und versperren. Schwierigkeiten traten allerdings auf, den Schlüssel aufzufinden. Meine Tochter oder mein Sohn, es ist mir entfallen, hatte die Idee, ich sollte den Schlüssel immer um den Hals an einem Band tragen. Anfangs half dieser Einfall. Später war auch diese Erleichterung für mich unbrauchbar geworden. Allerdings war mir der junge Nachbar behilflich, der über diese meine Gewohnheit Bescheid wusste. Ich wunderte mich darüber insgeheim, tat aber so, als wäre dies ohnehin klar. Er sagte meinen Namen, den ich damals noch erkannte, sie haben sicher den Schlüssel um ihren Hals hängen, sagte er. So konnte ich oft in meine Wohnung. Ohne fremde Hilfe wäre ich nicht mehr in sie gekommen. All diese unwichtigen Zwischenfälle verschwieg ich vor meinen wohl nur angeblichen Angehörigen, die über mich bestimmen wollten. Diese Fremdlenkung wollte ich nicht akzeptieren. Ich wollte nicht zu einem Objekt der Fürsorge werden, obwohl ich es letztlich doch werden sollte. An einem Samstag hatte ich in der Nacht solche Angst - ich hörte verdächtige Geräusche, dass ich zusätzlich den Schlüssel in der Schlafzimmertür zweimal umdrehte. Am Sonntag, als mich mein Sohn besuchte, konnte ich die Tür nicht mehr aufschließen. Auch ihm gelang es nicht, mich aus meiner misslichen Lage zu befreien. Ich konnte den Schlüssel nicht einmal aus dem Schloss ziehen. Mein Sohn telefonierte mit seiner Schwester, damit sie ihm in seiner Hilflosigkeit beistünde. Sie schickte ihren Mann, dem es nach einiger Zeit und Bemühungen gelang, den Schlüssel aus dem Schlüsselloch zu stoßen. Er fiel zu Boden. Nun erklärte mir der Schwiegersohn, ich sollte den Schlüssel aufheben und beim Fenster warten, bis ich meinen Sohn unten vorm Haus sehe und erst dann den in ein Taschentuch gewickelten Schlüssel hinunterwerfen. Ein Taschentuch konnte ich nicht finden, so warf ich den bloßen Schlüssel hinunter. Mein Sohn brachte dann den Schlüssel in den dritten Stock, obwohl ich meiner Meinung im Keller wohnte. Es dauerte aber dann doch noch, da die Zuhaltungsfeder angebrochen war, bis ich das Schlafzimmer verlassen konnte. Ich wartete die ganze Zeit ungeduldig an der Tür. Nach diesem Ereignis nahm alles eine so schnelle Wendung, dass mir auch meine Wohnung ganz fremd geworden war und ich nur in meine wirkliche Wohnung wollte, die sich woanders befand. Ich packte zwei Koffer mit dem Wichtigsten, Tag für Tag, aber mein Sohn oder meine Tochter packten wieder alles aus. Aus fremder Sicht war das Eingepackte völlig willkürlich und unzurechnungsfähig ausgewählt worden. In meinen Laden war die denkbar größte Unordnung eingekehrt, denn ich gab zu den Kleidungsstücken Lebensmittel und zu den Lebensmitteln Unterwäsche. Ich war mir dieser Unzulänglichkeiten nicht bewusst. Mir war nur wichtig aus dieser Fremde wegzukommen. All die Bücher, die mich umgaben, waren mir völlig aus dem Gedächtnis entfernt worden. Ein Buchrücken, der mir früher einen zuverlässigen Inhalt ins Gedächtnis gerufen hätte, evozierte keinerlei Assoziationen. Manchmal wünschte ich mir, das gebe ich inzwischen kleinlaut zu, eine gewisse Sommerfrische für meine Gedanken, die immer um bestimmte ganz wenige Themen kreisten. Gut gewesen wäre es vielleicht oder auch nicht, ich bin mir darüber immer unsicherer geworden. Aber nun, da sich alle Gedanken und Erinnerungen von mir für ständig verabschieden wollen, empfinde ich meinen rapid zunehmenden Gedächtnisschwund zuweilen, wohl nur in sehr seltenen lichten Augenblicken, doch als großes Unglück. Einfach ist es nicht darüber zu sprechen, wahrscheinlich ist es sowieso unmöglich, aber das Unmögliche hat mich Zeit meines Lebens gereizt. So versuche ich also unbetretene Gebiete zu erkunden, obwohl mir der Wortschatz immer stärker zusammenschrumpft. Meine Angehörigen, dies nehme ich an, ich kannte sie nicht mehr, alarmiert durch meine Fehlleistungen, die ich beharrlich als einmalige Fehlleistungen darstellte, obwohl sie täglich mehrfach vorfielen, riefen einen Arzt, der mir allerlei überflüssige Fragen stellte, etwa welche Jahreszeit jetzt sei, ich sagte Winter, aber es war Sommer und ein düsterer Regentag. Es ging weiter mit Fragen, ob es morgens oder abends sei. Ich sagte abends, obwohl es nach Meinung des Arztes morgens war. In welcher Stadt ich wohne. Ich sagte in Graz, obwohl ich mich angeblich in Klagenfurt befand. Wie ich hieße. Das könne er an der Eingangstür lesen. Das war eine prima Ausrede, denn mir fiel in diesem Augenblick mein Name nicht und nicht ein. Mit der blöden Fragerei ging es noch eine Weile weiter. Das ganze ängstigte mich, und ich gab mir größte Mühe, mich diesem lästigen Eindringling im besten Licht zu präsentieren, was allerdings misslang, denn ich wurde trotz meiner Anstrengungen als Pflegefall der Stufe 5 beurteilt, obwohl ich doch ohne Hilfe den ganzen Haushalt erledigte, was allerdings seitens anderer Personen hinterhältiger weise bestritten wurde. Ich ging täglich einkaufen und erst unlängst kaufte ich nur durch die Schuld der blöden Verkäuferin, deren Beratung ich gutgläubig in Anspruch nahm, statt Klopapier irrtümlich Babywindeln. Auf die Frage meiner Tochter, weshalb ich Babywindeln gekauft habe, erzählte ich ihr die Geschichte und fügte hinzu, dies sei nicht schlimm, im Haus wohne eine junge Mutter mit einem Baby, die werde sich, wenn ich ihr die nicht benötigten Windeln schenke, überaus freuen. Es sei unbestritten, dass mir immer wieder kleine Missgeschicke passierten, die aber der Erwähnung nicht wert sind. Angeblich habe ich den unteren Teil meines künstlichen Gebisses irrtümlich in den Mist geworfen, während ich mir sicher bin, dass er mir von der Zustellerin des Essens auf Rädern gestohlen wurde, denn sie brauchte das Untergebiss dringend für ihren Großvater. Auf den Einwand meiner Tochter, mein Zahnersatz hätte ihm ja nicht passen können, sagte ich, wie soll das junge, unerfahrene Ding das wissen. Gebiss ist für sie Gebiss und mein Gebiss war für sie der ideale Ersatz für Großvaters zertretenes Gebiss. Diese Besserwisserei und Einwände meiner Umgebung ärgerten mich zunehmend, obwohl ich versuchte mich so weit es nur ging zu beherrschen, gelang es mir trotz aller Anstrengungen nur selten, denn wie sollten die anderen über mich besser Bescheid wissen, als ich selbst, das wollte nicht und nicht in meinen klugen und 92-jährigen Kopf. Aufregungen gab es über nichts und wieder nichts. Eines heißen Frühnachmittags war ich durstig und nahm die Vase mit den schönen Rosen und wollte sie an meinen Mund führen, als mich meine Mutter oder Tochter daran hinderte, als ob das Blumenwasser vergiftet wäre. Man brachte mir dann frisches Leitungswasser, aber ich wies es ab, denn ich hatte inzwischen keinen Durst mehr. Die Arztdiagnose über mich lautete, was ich nicht mehr verstehen konnte, Altersdemenz des Alzheimer Typs und Schizophrenie. Inzwischen bin ich verstorben, ohne viel - Gott sei Dank - vom Sterben mitbekommen zu haben.

Wenn sie Lust haben, können sie mich auf dem St. Ruprechter-Friedhof besuchen. Ich werde sie zwar nicht wahrnehmen, aber sie werden mich auch nicht stören. Sie können, wenn sie es als überhaut nötig empfinden, den bescheidenen, nicht sehr geschmackvollen Grabstein photographieren.

LYRIK (ÜBERSETZUNGEN):

Edvard KOCBEK

Gebet


Ich bin,
denn ich war
und jedem
steht es zu
mich zu vergessen.

Und dennoch
bekenne ich:
ich bin
und ich war
und ich werde sein
und deshalb bin ich mehr
als das Vergessen,
unendlich mehr
als die Verneinung,
unermeßlich mehr
als das Nichts.

Alles ist ewig
im Entstehen,
die Geburt stärker
als der Tod,
beständiger
als Verzweiflung und Einsamkeit,
mächtiger
als Lärm und Sünde,
ruhmreicher
als Verworfenheit.
Nie
werde ich vergehen.
Nie.
Amen.

Originaltitel: Molitev. In: Groza. Ljubljana 1963, S. 109

Alojz IHAN

Das Vogelhäuschen


Inmitten des Winters stellst du ein Vogelhäuschen
im Garten auf und du merkst, es wird nur von
großen und starken Vögeln besetzt, die den schwächeren
den Zutritt verwehren. Deshalb versorgst du sie
mit mehr Vogelfutter, damit es für alle
reichen sollte, aber die kleinen Vögel müssen weiterhin
darben, sie fallen auf den Schnee und sterben.
Dann bastelst du zusätzliche Futterhäuschen, aber die
großen Vögel nehmen alles in Beschlag. Jeder Vogel sitzt nun im
eigenen Häuschen und verjagt die kleinen. Das erzürnt dich
und sooft du einen großen Vogel bemerkst, versuchst du ihn
zu verscheuchen, aber immer flattern die verschüchterten
kleinen Vögel fort und es dauert besonders lang,
bis sie sich zurücktrauen. Zuletzt hast du es
satt, du greifst zur Flinte und beginnst
die großen Vögel abzuschießen. Bald sind
sie verschwunden, aber nun werden die mittelgroßen Vögel bösartig:
die Futterhäuschen werden immer seltener besucht, die Vögel
meiden sie, dir scheint es aber so,
du könntest die Angelegenheit
nicht so auf sich beruhen lassen. Endlich erinnerst
du dich daran, dass du die Vögel
im Grunde nur mit Futter versorgen wolltest.

PROSA (ÜBERSETZUNG):

Lojze KOVACIC

Geliebtes, schmutziges Laibach


Hoch oben im Burggarten saßen zwei Frauen unter einem Kastanienbaum und strickten. Ein Papiersack mit Semmeln und in Papier gewickelter Käse lag zwischen ihnen auf der Holzbank. Das Gebäck hatten sie in der Bäckerei Bizjak gegenüber vom Bischofspalais gekauft, den Käse unweit davon. Unter der Bank war eine Ledertasche abgestellt, aus der der Hals einer dunkelgrünen, mit Kaffee gefüllten Flasche ragte. Die Tasche war mit einigen Steinen an der Vorder- und Hinterseite abgestützt, damit sie nicht kippen konnte. Da niemand außer dem ab und zu vorbeikommenden Parkaufseher, einem dürren Männlein, das einen Schlapphut aufhatte, zu sehen war, rollten die Frauen ihre Baumwollstrümpfe bis zu den Knöcheln herab und sonnten zufrieden ihre weißen, schmächtigen Beine.
Die beiden hatten ihren Ausflug auf den Schlossberg schon vor Monaten ins Auge gefasst. Vor dem Krieg waren sie letztmals gemeinsam auf der Burg gewesen und es wäre eigentlich bedauerlich, wenn sie sich zu dieser Fußwanderung nicht hätten aufraffen können. Sie wohnten ohnehin in unmittelbarer Nähe ihres Ziels. Vor einigen Wochen haben sich die beiden dann endgültig geeinigt, ihr Vorhaben trotz ihrer sechzig Jahre auszuführen. Natürlich mussten sie zuvor sparsam wirtschaften, damit sie sich für diesen Ausflug einige Semmeln und Kaffee leisten konnten. Nach kurzer Beratung war der Entschluss gefasst, dass sie sich nur einmal wöchentlich Kaffee und Jausenbrot gönnen werden. Dies war eine bereits bewährte Einschränkung.
Theresa zog diesmal das grün karierte UNRRA-Kleid an, das sie vor Jahren vom Rot-Kreuz-Ausschuss bekommen hatte, und das sie bisher noch nie getragen hatte, weil es ihr für ihr Alter zu jugendlich und überdies zu eng schien. Als sie es anhatte und Hanna es über alles lobte, da war auch sie überzeugt, dass es ihr bestens stehe. Aufgeregt betrachtete sie sich im Küchenfenster. Sie war hoch gewachsen, kantig, hatte kräftige fast männliche Gesichtszüge und fahrige hellgraue Augen. Sie war mit ihrem Aussehen durchaus einverstanden. Morgen werde ich noch einen weißen Kragen annähen, dachte sie. Hanna zog ihre Knopfstiefel an, die sie in einer Pappschachtel unter dem Schrank aufbewahrte. Die Stiefel sahen immer noch wie neu aus, obwohl sie sie bereits vor über zehn Jahren von Frau Epich geschenkt bekam, bei der sie dreißig Jahre hindurch den Haushalt geführt hatte. Das waren noch gute Zeiten!
Im Herbst des Jahres 1946 musste sie jedoch mitten in der Nacht aufstehen, um die Haustüre aufzuschließen.
Vor dem Eingang standen zwei Partisanen und ein Zivilist. Frau Epich wurde mit ihrer Tochter Erika abgeführt. Beide kamen ins Sammellager und später nach Österreich. Hanna begleitete sie zum Lastwagen, der vor der Villa wartete und der sie für immer abtransportieren sollte. Als Hanna ins Haus zurückwollte, war die Tür versiegelt und ein bewaffneter Soldat bewachte das Gebäude. Sie durfte es nicht mehr betreten und sie war ganz außer sich. In dieser Notsituation erinnerte sie sich an ihre Freundin Theresia Koželj, die auf der Poljanski-Schütt eine Wohnung besaß. Hanna wäre vor Scham beinahe gestorben, als sie spätnachts so weit im Nachthemd, über das sie in aller Eile den dünnen Morgenrock angezogen hatte, durch die Stadt laufen musste. Theresa hatte ihren Mann schon sehr früh verloren. Er war in der Brauerei UNION als Bierzusteller beschäftigt gewesen. So war das Zimmer für beide groß genug, und Hanna hatte sich bei ihr für ständig einquartiert.
Als die Frauen zum Ausgang gerüstet waren, befiel sie Unruhe, denn noch nie zuvor hatten sie gleichzeitig die Wohnung verlassen, um sich so weit wie heute von ihr zu entfernen. In letzter Zeit häuften sich die Einbrüche in der Umgebung, deshalb hütete gewöhnlich eine der beiden die Wohnung. Das kleine Flurfenster wurde sorgfältig geschlossen. Hanna schob den Porzellanteller - das einzig kostbare Geschirr, das sie besaßen - unter die Kredenz, damit es die Diebe nicht gleich fänden. Die Küchentüre wurde gewissenhaft abgesperrt.
Dann warfen sie noch einen Blick ins Schlafzimmer. Das war ein teils weißgetünchter, teils holzverschalter Raum, nach der Art, wie man sie in Bauernhöfen sehen kann. Das Mobiliar bestand aus zwei hohen Betten, einem Spiegelschrank, einem Lehnstuhl, den Theresas verstorbener Mann mit einer Kopflehne versehen hatte lassen und einem Bettvorleger aus Wolle. Obwohl die Fenster immer geöffnet waren, roch es im Zimmer abgestanden. Theresa schlüpfte aus ihren Schuhen, denn das Zimmer durfte man nur in Strümpfen betreten, wegen des rot gestrichen Bodens, der täglich gepflegt wurde, schloss das Fenster und zuallerletzt zog sie die Vorhänge zu. „So!“ sagte sie mit einer Stimme, die so hohl klang, als spräche sie in einem Grabgewölbe. Als alles aufgeräumt und verschlossen war, lugten sie durchs winzige Flurfenster auf den kleinen, sauberen Hof, in dem ihre Wäsche trocknete. Dann gingen sie ins Treppenhaus. Doch im Flur fiel Theresa ein, dass sie das Messer und den Regenschirm vergessen hatte. Sie wollte ihn als Sonnenschirm gebrauchen. Sie eilte zurück und tauchte bald mit einem mächtigen Herrenschirm auf. Über die Poljanski-Schütt gingen sie zum Marktplatz. Es war ein besonders heißer Tag, und die Laibach stank. Der schmutzige Schaum des Flusses schien zu einer krustigen Rinde erstarrt. Wegen der Hitze war die Straße menschenleer. In den unbewohnt scheinenden Räumen des rot gestrichenen Hauses, an dem sie vorbeikamen, knarrten die Möbel und der Parkettboden. In der Bäckerei Bizjak mussten sie sich durch eine Schar junger Leute, deren Netze bereits mit Badeanzügen, Bällen und Obst gefüllt waren, zum Ladentisch drängen, um vier Semmeln zu kaufen. Vor dem Milchladen mussten sie kurz auf die Verkäuferin warten, die sie von Abendandachten her kannten und die vor der Kirche die Tauben fütterte. Nachdem der Käse schließlich abgewogen, eingepackt und bezahlt war, verließen sie den kühlen Raum nur ungern, und gingen ein Teilstück des Weges, den sie gekommen waren, zurück. Sie bekreuzigten sich im Vorübergehen vor einer Nische der Kathedrale, in der sich hinter einer dunklen Scheibe die schmerzensreiche Muttergottes befindet. In der Študentovska-Straße war es wieder kühl und schattig. Der erhitzte Mauerverputz roch intensiv. Eine himmelblaue Matratze stand zum Lüften an einem offenen Fenster und zeigte Rostflecke, die wahrscheinlich vom Drahtgeflecht des Betteinsatzes herrührten. Als sie den ersten Wegabschnitt hinter sich hatten, blieben sie stehen und blickten auf die Stadt und waren erstaunt. Aus der Vogelperspektive hatte Laibach ein völlig neues Aussehen. Die Frauen glaubten nahezu, sie wären in China, jedenfalls anderswo. Sie erspähten eine schöne, breite Straße, deren Identität sie nicht auf Anhieb feststellen konnten. Sie zankten sich, Hanna bestand darauf, dass es die Rimska-Straße sei, Theresa hingegen versteifte sich darauf, dass dies völlig ausgeschlossen sei, und da sie besser sah, begann sie den Irrtum ihrer Freundin nachzuweisen. „Schau, Hanna! Hier sind die Türme der Nikolauskirche, ein wenig weiter ist Kresija, dann die Dreibrücken, das Haus der Mayers ... ich weiß es schon! Das ist der Park und die Straße ist die Šubiceva. Nein, es ist unglaublich, wie schwer man sich aus diesem Blickwinkel zurechtfindet!“
„Es ist tatsächlich die Šubiceva“, pflichtete ihr Hanna bei und betrachtete bewundernd wie ein kleines Kind ihre etwas ältere Freundin. Dann setzten sie den Aufstieg fort. „Vor dem Krieg“, sagte Hanna, „zahlte ich öfters einen Dinar und bestieg den Schlossturm. Die Aussicht ist von dort noch um einiges schöner. Damals, Theresa, habe ich die Alpenkette und die Stadt bewundert!“
„Ich weiß, ich weiß!“ sagte Theresa, und nahm das Kopftuch ab, „auch ich bin mit France gelegentlich auf den Aussichtsturm gestiegen. Unter einer Glasplatte lag der Stadtplan von Laibach. Vor diesem erklärte mir France jedes Mal, wo die und jene Straße zu sehen ist. Auch Lehrer kamen häufig mit ihren Klassen hier herauf und zeigten den Schülern die umliegenden Berge.“
„Theresa!“ sagte Hanna und hielt inne, „mir kommt es so vor, als wären wir beide bereits gemeinsam auf dem Turm gewesen. Es war zu Ostern. France war ebenfalls mit. Ich kann mich jetzt wieder gut daran erinnern. Bei der Besteigung zerdrückte ich das Osterei, das ich in meiner neuen Handtasche hatte. Erinnerst du dich noch daran, Theresa?“
„Wirklich nicht? Mir hingegen blieb es fest im Gedächtnis haften. Meine schwarze Handtasche kennst du ja. Noch jetzt ist der Fleck vom Osterei zu sehen. War ich damals betrübt, ich kann es kaum beschreiben. Auch um das Osterei tat es mir leid. Frau Epich hat es für mich so schön bemalt. Es sollte ein Andenken sein!“
Theresa blieb stehen. „Schau Hanna, ich kann es kaum glauben, dass wir da unten waren “sagte sie und zeigte mit dem Regenschirm auf die dicke Mauer und die staubigen und glühenden Dächer der Študentovska-Straße, die zwischen dem Grün der Sträucher ab und zu sichtbar wurden. Mit ihren heiteren, kurzsichtigen Augen blickte Hanna hinunter.
„Es ist wahr, auch ich kann es kaum für möglich halten“, bestätigte sie. „Wir sind schon so hoch und trotzdem bei Kräften.“
„Siehst du dort die Tauben, Hanna?“ fragte Theresa und stützte sich währenddessen auf den Schirmgriff.
„Die kann ich aber nicht sehen. Wo sollen sie sein?“
„Die Tauben sind hinter dem Haus, in dem früher das Kolonialwarengeschäft Julius Meinl war. Bist du nicht imstande, sie auszumachen, Hanna? Dort befinden sich einige Dachluken, daneben sieht man vor einem Fensterbrett ein paar Taschentücher hängen.“
„Ich kann nichts erkennen, Theresa. Du hast aber immer noch Adleraugen“, sagte Hanna voller Respekt.
„Litt ich nicht solche Atemnot, wäre ja alles in Ordnung“, entgegnete Theresa betrübt.
Sie gingen weiter. Die Hitze strömte selbst durch die dichtbelaubten Zweige. Die Luft war mit Gezirpe und Gesumme erfüllt und in der Luft hing der Geruch nach heißen Dächern, nach saftigem Grün und gelegentlich nach Exkrementen, die von Fliegen umschwirrt wurden.
Nachdem sie ihr Ziel erreicht hatten, sichteten sie unter sich, am Fuße der Böschung, einige Burschen, die über die Teufelsleiter zur Burg stiegen.
„Manchmal“, sagte Hanna sanft, „ging ich mit der damals noch kleinen Erika Epich zur Schanze. Das Kind hatte meist eine Unmenge Spielsachen mit: die Puppe, den Teddybären, den Ball und die Schaufel. Als wir oben angelangt waren, musste ich Kastanien abreißen, damit wir mit ihnen spielen konnten. Dann kümmerte sich der Fratz um das mitgeschleppte Spielzeug überhaupt nicht.“
„Findest du nicht, dass es kühler geworden ist?“ fragte Theresa. „Ja“, nickte Hanna zustimmend. „Frau Epich schützte ihre Haut immer vor der Sonne, obwohl sie schon bejahrt war. Als Mädchen soll sie eine der schönsten Frauen in Laibach gewesen sein. Man erzählte sich, dass nicht einmal die Töchter Jerajs aus Šiška sie an Anmut übertroffen hätten. “
Der nicht gesicherte, stark ansteigende Weg schien geradezu in den Himmel zu führen. Vom Laibacher Feld segelten Wolken heran, die sich zusammenballten und sich treppenförmig aufzutürmen begannen. Auf dem knöchernen Rücken der vorausgehenden Theresa wechselten Licht und Schatten, je nachdem die Strahlen an den Blättern und dem Geäst der Kastanienbäume vorbeifluten konnten oder auf ein Hindernis stießen.
Auf dem Burgplateau stand eine bloßfüßige, abgemagerte Frau am Eisengeländer. In den Armen hielt sie ihr Kind und betrachtete feindselig die beiden Frauen.
„Wir haben es doch geschafft, “ sagte Theresa und fächelte sich kühle Luft zu.
Sie setzten sich auf eine halb von der Sonne beschienene Bank in der Kastanienallee. Sie klopften den Sand aus den Schuhen und stellten sie daraufhin in den Schatten, breiteten Zeitungspapier aus und ließen die Augen über die unter ihren Füßen liegende Stadt gleiten, verweilten beim Kirchturm des Hl. Josef, bei den ziegelroten Fabrikschornsteinen, den gleißenden Werkhallendächern der ehemaligen Lederfabrik Polak, die halb verborgen hinter den Kastanienbäumen des St.-Peter-Ufers hervorschimmerten und folgten dem dunklen Flusslauf der Laibach zwischen der St.-Peter-Kaserne und der Zuckerfabrik. Zur Rechten sahen sie bebaute Felder und in Richtung Mariafeld, zur Linken das Laibacher Moor, mit vereinzelten Bäumen und bläulichem Dickicht. Die erhitzte Luft flimmerte über dem Häusermeer wie über einem Feuer. Ganz Laibach schmachtete hinter geschlossenen Fenstern in muffigen Räumen und wurde von Fliegen gepeinigt.
„Mein Gott, Theresa, was für ein schöner Anblick!“ sagte Hanna begeistert und legte dabei ihre zierlichen Hände in den Schoß, genau in die Falte des Kleides.“ Vor Tagen war ich noch überzeugt, ich werde nicht mehr so hoch steigen können. Du weißt ja, meine Beine wollen nicht mehr so recht!“
„Ich glaube dir das“, sagte Theresa. Sie beobachtete die Wolken, die über die Stadt zogen. Blendend weiße Wolkenfetzen lösten sich auf, zerstoben regelrecht, flossen wieder ineinander und verdichteten sich. Eine sonderbare Schwermut überfiel die Frauen und ihre Augen wurden auf einmal feucht.
„Eigentlich hätten Ursula und Fränzi mitkommen können“, davon war Hanna überzeugt. Ursula und Fränzi waren gute Freundinnen, die wegen ihres Rheumas nur kurze Wegstrecken zurücklegen konnten. Nachmittags saßen sie gewöhnlich auf der Kaimauer in Prule. Dort strickten sie und kühlten ihre Füße hin und wieder in der warmen, träge dahin fließenden Laibach.
Unhörbar und plötzlich wie eine riesige, Angst einjagende Schildkröte tauchte zwischen den Bäumen eine schwarze Limousine auf. Sie schoss an den Frauen mit leise klirrenden Scheiben vorbei.
„Der Fahrgast ist sicher Minister“, sagte Theresa nachdenklich und zog dabei die dünnen, weißen, wie mit einem Bleistift gezogenen Augenbrauen zusammen.
„Glaubst du?“
„Ganz sicher!“
Sie strickten Strümpfe, zählten Maschen und ließen die Stricknadeln klimpern.
„Ich war noch nie mit so einem Auto unterwegs, und du Hanna?“
„Ja schon, allerdings nur einmal. Das war 1936, als Herr Epich noch lebte. Sein Wagen hatte ein Schiebedach. Wir fuhren nach Dubrovnik. Das war wunderbar. Später bin ich nur noch mit dem Autobus gefahren.“
Hanna bewegte unruhig die Füße auf dem Zeitungspapier und zerriss es. „Um Gottes willen, Hanna, zerfetze doch nicht die Zeitung!“ reagierte Theresa etwas schroff, dann fuhr sie fort: „Nun ja, mit dem Autobus bin ich öfters gefahren, zum Beispiel zu meiner Schwester nach Pettau, aber noch nie mit einem so vornehmen Auto.“
Mit einer Stricknadel kratzte sie sich am Ohr und musterte ihre Freundin. Hanna lag halb ausgestreckt in ihrem schwarzen, verschlissenen Seidenkleid auf der Bank und heftete ihre kurzsichtigen, wimperlosen Augen auf ihre sich träge bewegenden Finger.
„Die Herrschaften haben alles, wonach es sie gelüstet!“ sagte Theresa. „Als ich von Fränzi heimkehrte, führte mich der Weg zufällig am Haus eines Ministers vorbei. Seine Frau, eine überaus elegant gekleidete Dame, stieg gerade ins Auto, als ich die Straße überquerte. Ein junges Mädchen, vermutlich die Haushilfe, verstaute nach und nach die vielen auf dem Gehsteig stehenden Gepäcksstücke im Kofferraum. Ich blieb aus Neugierde stehen und hörte, dass die gnädige Frau ans Meer fährt. Ich sage dir, Hanna, die haben den Himmel auf Erden.“
Hanna unterbrach ihre Handarbeit und spann begeistert ihre Gedanken weiter: „Wenn ich zurückdenke, was die Epichs alles hatten!“
„Kürzlich sprach ich mit dem Ofensetzer Felix“, sie verfiel in ein Flüstern, als sich der Parkwächter näherte. „Er schwor, in seinem Leben noch nie so eine wunderschöne Küche und ein so prächtiges Badezimmer gesehen zu haben als in der Villa des Ministers, in der er einen Ofen ausbessern musste.“
„Das ist nichts, Theresa. Die Epichs hatten allein in der Küche einen von oben bis unten gefüllten Schrank mit Meißner-Porzellan und eine Eismaschine. Im Garten sprühte und plätscherte ein zauberhafter Springbrunnen. Nur wenige sind so reich wie die Epichs es einst waren. Soviel wie sie besaßen, haben die derzeitigen Minister allesamt nicht!“
Theresa lächelte verächtlich, schob den Papiersack beiseite und neigte sich zu ihrer Freundin.
„Hanna, ich möchte dich etwas anderes fragen. Hat sich Herr Epich nicht sein Leben lang im Geschäft abgerackert, um das zu erreichen, was er schließlich war?“
„Natürlich hat er das, Theresa. Und wie er sich abgemüht hat! Mittags stand ich fast immer am Fenster und wartete auf ihn. Sobald er aus der Straßenbahn stieg, warf ich den Reis in die Suppe. Er liebte ihn nur hart und wenig gekocht. Mitunter wurde es zwei Uhr, ehe er kam und kaum hatte er gegessen, ging er wieder.“
„Hanna, du musst es inzwischen eingesehen haben“ sagte Theresa, „was ist von all dem Reichtum der Epichs geblieben? Nichts, rein gar nichts!“
„Heute ist es so, Theresa! Die einen haben alles, die anderen nichts!“
Hannas weißes Haarnetz verrutschte und ihre helle Kopfhaut schimmerte zwischen ihrem schütteren, silbergrauen Haar hindurch.
„Ach, das wird sich ändern“, sagte sie mit einem bitteren Lächeln. „Die Epichs hatten ein großes Vermögen und sie werden es noch zurückbekommen. Gott, der gerechte Richter, wird es so fügen!“
„Davon bin ich überzeugt!“ vertrat Theresa ihre Meinung resolut. „Vielleicht schon bald, Gott zögert nur, um uns zu prüfen!“
Sie schwiegen, strickten weiter und fühlten wie sich die Wärme der Sonnenstrahlen in ihren Beinen allmählich ausbreitete und ihre Haut zu spannen begann.
„Ursula und Fränzi werden staunen, wenn wir ihnen von unserer Schlossbergwanderung berichten werden!“ meinte Theresa triumphierend. „Du wirst sehen, gleich in der kommenden Woche werden sie versuchen, das Versäumte nachzuholen, früher werden sie keine Ruhe finden.“
Spitzbübisch schmunzelte sie. „Da haben wir ihnen einen Streich gespielt!“ „Die ganze Woche machten sie sich über uns lustig und waren überzeugt, wir könnten niemals den Schlossberg ersteigen. Nun werden sie große Augen machen.“
„Aber, was dann, wenn sie an unseren Wagemut nicht glauben?“ äußerte Hanna ihre Bedenken.
Theresa blickte sie scharf an. „Es wird ihnen nichts übrig bleiben.“ Dann ließ sie ihre Augen die mit Bäumen gesäumte Straße entlang schweifen und schüttelte jäh den Arm der Freundin. „Das ist ja Marie Sadar! Sie kümmert sich, dass ihr Baby genügend Frischluft bekommt.“ Erregt stand Theresa auf, winkte mit der Handarbeit und rief: „Marie, komm, komm her!“
Eine junge, robuste Frau schob einsam, mitten auf der schattigen Promenade, einen weißen Kinderwagen vor sich her. Als sie ihren Namen vernahm, hob sie den Kopf, lächelte und winkte in Richtung des Rufes, wendete den Kinderwagen und lenkte ihn auf die Bank zu, vor der sie Theresa stehend erwartete. „Ach, das ist also dein Baby!“ sagte liebevoll Theresa, während sie sich über das pausbäckige Mädchen beugte. Das Kind drehte sich
von ihr weg und drückte seine rosigen Fäustchen an den Körper. Hanna, die inzwischen aufgestanden war,
zitterten die Hände vor Aufregung, als sie Theresa den Gurt öffnen half. Sie flüsterte: „Was für ein schöner Ledergurt!“
Theresa hob das Kind hoch in die sommerschwüle Luft, während dieser Prozedur löste sich die Windel und glitt zu Boden.
Erregt und atemlos gab sie der Kleinen einen Kosenamen nach dem anderen. „Zuckerpüppchen! Engelchen! Nicht wahr, jetzt bist du hoch in den Lüften? Die Prinzessin muss hoch in den Lüften sein. Ja, sie muss, sie muss! Süßer Schneck, hast du vor einem so alten, hässlichen Weib nicht Angst?“ Das Baby schüttelte den Kopf. „Also du fürchtest dich nicht! Oh, du mein Herzbinkel, meine Wonne, mein Goldkind!“ - „Wie alt ist sie?“ fragte sie, als sie sich mit gerötetem Gesicht setzte.
„Zehn Monate, Tante“, antwortete Marie mit tiefer Bruststimme. Ihrer Handtasche entnahm sie eine Zigarettenschachtel und Zünder.
„Du rauchst doch nicht, wenn das Kind im Zimmer ist?“ erkundigte sich Theresa streng und vorwurfsvoll.
„Nein, nein, wie kannst du so etwas annehmen? Du weißt ja, dass wir nur ein Zimmer haben.“
„Gibst du sie mir nur ganz kurz auf den Schoß?“ bat Hanna Theresa. „Da hab sie“, sagte sie zärtlich und willig, dennoch bemerkte Hanna, dass sich Theresas Miene unmerklich verdüsterte, da sie das Kind nicht hergeben wollte. Als Hanna die Kleine aus den Händen der Freundin nahm, spürte sie, wie Theresas Ellbogen hart an den ihren drückte.
„Nur für einen Augenblick“, bat Hanna, ohne sie anzusehen, setzte das Mädchen auf ihren Schoß, legte die Arme des Babys behutsam um ihren faltigen Hals und betrachtete das kleine Geschöpf begeistert.
„Im Haus, in dem so ein entzückendes Kind wohnt, muss eitle Wonne herrschen“, hauchte sie mit einschmeichelnder Stimme. Marie hatte sich auf die Bank gesetzt und trat mit der Ferse den glühenden Zigarettenstummel aus. Theresa betrachtete verstohlen die abgearbeitete, junge Mutter, bemerkte ihr billiges, blaues Konfektionskleid, ihre braunen, traurigen, aber das Leben bejahenden Augen, die roten, rissigen Hände und die geschwollenen Beine.
„Hast du viel Wäsche zu waschen?“
Marie biss sich in die Unterlippe und nickte. „Mehr als genug“, seufzte sie und strich sich die auf die Stirn gefallene Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Hast du wieder eine Venenentzündung? Du Ärmste! - Was macht dein Mann? Hat er Arbeit gefunden?“
„Nein, noch nicht! Irgendeinen Posten hat man ihm bei der Eisenbahn zwar in Aussicht gestellt. Ob etwas daraus wird, ist ziemlich ungewiss!“
„Reicht das, was du verdienst?“ „Wir haben unser Auslangen, ich arbeite, und mein Mann verdient ab und zu etwas dazu.“
„Ja, das Leben ist schwer, leider“, klagte Theresa und blickt auf ihre Hände, mit denen sie als Mädchen Holz gesägt, den Kamin geputzt und wenn es notwendig war, sogar Hasen abgestochen hatte.
„Aber, das wird nicht lange dauern: Gottes Zorn wird all dem Treiben ein Ende bereiten.“
Der Säugling begann zu weinen. Hannas Daumen und Zeigefinger stelzten das Bäuchlein aufwärts und zwar im Rhythmus des Kinderverses, den sie zu murmeln anfing: „Es geht, es geht ein brauner Bär durchs Holz, tapp, tapp, tapp, und möcht´ gar gern ein Mädchen fressen, schmatz, schmatz, schmatz!“
Sie kitzelte das Baby am Hals, das daraufhin das Kinn sofort an die Brust drückte und in ein helles Quietschen ausbrach. Alle lachten mit. Das Mädchen entwand sich den Liebkosungen und fing neuerlich zu heulen an.
Marie erhob sich. „Wir müssen heimgehen, es hilft nichts: Mariechen, kommst du zur Mama?“ Das Kind streckte die Arme aus und umarmte die Mutter.
„Die Mama, nur die Mama hat die Kleine gern“, sagte Hanna schwermütig. „Vor mir fürchtet sie sich, weil ich so alt und hässlich bin!“ Marie, die vor der Bank stand, fuhr sich mit einem roten Kamm durchs dichte, kräftige Haar. Das Kind beobachtete sie und schnalzte mit der Zunge.
„Ihr seid aber rüstig“, sagte Marie, „ihr habt einen weiten Weg zurückgelegt.“
Vor Verlegenheit wurden die Frauen rot. „Wir wollten nur noch einmal zur Burg und sagten uns, komme, was da wolle!“
Marie steckte den Kamm in die überfüllte Handtasche und trocknete dem Säugling mit einem zerknitterten Taschentuch das von Zungenübungen nass gewordene Mündchen. „So, jetzt gehen wir! Mariechen, wink´ den Tanten! Na?“ Sie wollte die Hand des Kindes zum Abschied schütteln, doch das Kind beugte sich aus dem Kinderwagen und langte nach einem Kastanienblatt, das sich an einem Gummirad verfangen hatte.
Die Frauen standen, ohne von der Zeitung zu treten, lachend auf und riefen ihr abwechselnd nach: „Besuch´ uns doch, Marie!“ „Komm` auf eine Tasse Kaffee.“ „Bis vier Uhr sind wir immer zu Hause.“
„Vielleicht komme ich am Sonntag!“
„Auf Wiedersehen!“ „Behüt´ dich Gott, behüt´ dich Gott“, riefen die Frauen. Sie standen noch, als der
Kinderwagen bereits hinter den Alleebäumen verschwunden war.
„Ein putziges Kind“, unterbrach Theresa die kurz eingetretene Stille. Nun setzten sie sich. Theresa schnupperte in der heißen Luft und obzwar augenblicklich keine Wolke am Himmel zu sehen war, sagte sie besorgt: „Du, Hanna, es riecht nach Regen.“
„Wir werden etwas essen“, entschied Hanna.
„Ach, das hätte ich fast vergessen!“
Hanna leerte den Papiersack, legte das Gebäck auf ihn und wickelte den Käse aus. Theresa reichte ihr das Taschenmesser, Hanna klappte es gewandt auf. „Schneide den Käse in Stücke“, befahl Theresa. Hanna entfernte vorsichtig die Rinde, zerschnitt den Käse in Würfel, nahm dann aus der Ledertasche die Kaffeeflasche und einen Blechtrinkbecher, auf dem eine holländische Windmühle zu sehen war.
„Rate, was ich zusätzlich gekauft habe“, fragte sie verschmitzt.
„Du bist und bleibst eine unverbesserliche Verschwenderin“, sagte Theresa und brachte ihren Steckkamm in die richtige Lage.
„Blicke her!“ Hanna streckte ihr die Tasche, deren Boden mit violetten Früchten bedeckt war, entgegen.
„Zwetschken! Du denkst an alles“, sagte Theresa und strahlte über das ganze Gesicht. Das Lob stimmte sie innerlich zufrieden und sie legte verlegen die Tasche beiseite. Sie bekreuzigten sich.
Mit alter, sicherer, zeremonieller Geste nahm jede eine halbe Semmel. Abwechselnd spießten sie die Käsestückchen mit der Messerspitze auf, legten sie auf die Semmelhälften und verschlangen ihren Imbiss.
„Heute ist ein Feiertag, das glaube ich ununterbrochen“, drückte Hanna ihre Stimmung aus.
„Schon lange haben wir keine so schönen Stunden verbracht“, pflichtete ihr Theresa bei. Sie zog den mit einem Leinenfleck umwickelten Stöpsel aus der Flasche, goss Kaffee ein und schlürfte ihn in kleinen Zügen. Auf der runden, dunkelbraunen Oberfläche spiegelte sich ein graues Haar, das ihr von der Stirn herunterhing.
„Marie Sadar hat eigentlich nichts vom Leben“, überlegte sie laut, als sie den Becher absetzte. „Es ist tatsächlich so!“ „Sie haben nichts! Sozusagen rein gar nichts! Kürzlich war ich auf einen Sprung bei ihnen.“
„Du hast mir von deinem Besuch kein Sterbenswörtchen verraten“, hielt ihr Hanna vor.
„Ich habe es verabsäumt. Hättest du nur gesehen, wie es dort aussieht. Marie und ihr Mann schlafen zusammen auf einem Eisenbett. Mariechen im Korb, auf einem Kissen, da keine Matratze vorhanden ist. Sie verfügen dann noch über einen Tisch und einen Schrank, den sie immer noch nicht besäßen, hätte ihn Marie nicht von ihrem Onkel bekommen. Ich beanstande ja nichts, sie haben alles sehr sauber, aber es fehlt ihnen sozusagen an allen Ecken und Enden.“
„Hm.“
„Bei ihr ging alles schief. Als sie heiratete, sprach man in Vic, jetzt sei sie eine Dame geworden. Die ganze Verwandtschaft war dieser Meinung. Unlängst habe ich ihre Kusine Johanna getroffen und ihr ohne Umschweife alles mitgeteilt, was ich mit eigenen Augen gesehen hatte. Nun wissen sie zumindest, in welcher Lage sich Marie befindet, und welche Bewandtnis es mit der ‘Dame’ hat.“
„Bedenke nur, wir leben heute in schweren Zeiten“, sagte Hanna.
„Schwere Zeiten“, entgegnete Theresa und lächelte hämisch. „Weshalb hat Magda im gleichen Haus alles? - Ihr Mann verdient sich ein Zubrot durch den Weiterverkauf von Fahrrädern, die er aus Triest bezieht. Er ist sich bewusst, dass man für die Familie sorgen muss. Vor kurzem erzählte mir Johanna, dass Magda mit ihrem Kind bei den Eltern zu Besuch war. Sie hatte ihren Buben wie einen Prinzen herausgeputzt, dass alle nur so staunten.“
Es donnerte. Theresa hob erschrocken den Kopf. „Ein Gewitter naht! Schau, die schwarzen Wolken.“
„Mein Gott, wir müssen auf der Stelle aufbrechen“, sagte Hanna besorgt.
„Tummle dich! Wickle die Käserinde für den Kater ein“, riet Theresa.
Hinter dem Šmarna-Berg ballten sich schwere Wolken zusammen. Mücken schwärmten dicht gedrängt in der drückend schwülen Luft. Eilig zogen die Frauen ihre Schuhe an.
„Es war ein wunderschöner Tag“, seufzte Hanna. Sie schüttete den Kaffeerest auf den Weg. Der trockene Boden sog die Flüssigkeit augenblicklich auf. Sie packten all ihre Habseligkeiten in die Tasche. Mücken umschwirrten unentwegt ihren Kopf. Eine geriet ihr ins Auge. Sie senkte den Kopf, entfernte mit dem Zeigefinger das Insekt und blinzelte eine Zeitlang mit tränendem Auge. „Siehst du, wie recht ich hatte, den Regenschirm mitzunehmen“, rühmte sich Theresa, die unter einer rauschenden Kastanienkrone stand und vom rötlichen Schein der letzten Sonnenstrahlen in Gold getaucht wurde.
„Ja, Theresa“, stimmte ihr Hanna zu.
Die Helligkeit erstarb und die Landschaft nahm plötzlich unterschiedliche Grautöne an. Der Himmel glich einer gewaltigen Schieferfläche. Die Fensterscheiben der Häuser am Fuß des Schlossbergs glänzten matt unter den schwarzen Dächern, als wären sie nicht aus Glas, sondern aus Zinn. Die Frauen eilten. Theresa hielt den großen Schirm über sich. Einige Schritte vor ihnen gaukelte gespenstisch ein violetter Schmetterling, freute sich des Lebens und am Wind, der ihn trug und der ihm bald den tödlichen Regen brächte.
Die Frauen wagten nicht, zum unermesslichen und drohenden Himmel emporzublicken, auf dem Blitze zuckten und Wolken sich wild ineinander schoben.
„Weißt du“, sagte Theresa verunsichert, „dass Blitze auch in Menschen einschlagen?“
„Um Gotteswillen, kann das tatsächlich geschehen?“
„Selbstverständlich, und gar nicht selten! Darüber habe ich in der Zeitung eine Menge gelesen. Besonders gefährdet ist man an erhöhten Orten. Nur schnell hinunter, dann sind wir gerettet.“
Der Geruch nach Schwämmen hing knapp über dem Boden. Sie gingen rasch. Als sie aus der Kastanienallee traten, wirbelte eine Bö Staub auf und ihre Röcke blähten sich wie kleine Fallschirme. An den Türen und Fensterläden der Burg rüttelte der Wind heftig.
„Es wird gleich regnen“, kündete der vorbeihastende Aufseher an.
Der Donner grollte immer stärker. Tief herabgedrückt wogte das Gras im peitschenden Wind. „Möge uns das Unwetter bloß nicht hier oben überraschen“, klagte Theresa. Sie hielt Hanna unterm Arm und zog sie mit sich. Hanna fühlte, wie Theresa zitterte, aber auch sie fürchtete sich. Ein beklemmendes Gefühl beschlich sie. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Seltsame Gedanken jagten ihr durch den Kopf.
„Glücklicherweise hat der Regenschirm keine Metallspitze“, seufzte Theresa erleichtert, sonst müssten wir noch mehr Angst haben.“
„Und wir haben uns so auf diesen Ausflug gefreut“, überschrie Hanna den Sturm.
Der Wind wühlte in den dunkelgrünen Kronen der Kastanienbäume. Unerwartet hellte sich der Himmel für wenige Augenblicke auf, und tauchte die Umgebung in bläuliches Licht. Nach kurzer Unterbrechung wurde es wieder dunkel und der Donner grollte.
„Es hat ganz in der Nähe eingeschlagen, und wir sind mutterseelenallein auf dem Schlossberg“, jammerte Theresa.
„Sonst eilten wohl noch andere Leute zur Stadt“, vermutete Hanna mit bleichem, verzerrtem Gesicht.
Der Sand knirschte unter ihren Schritten und der Wind brach knackend Zweige. Die ersten großen Tropfen fielen lautlos zu Boden, dann ergoss sich der Regen mit unglaublicher Wucht, so als ob der Himmel alle Schleusen geöffnet hätte.
„Um alles in der Welt weshalb nur sind wir auf die Burg gegangen?“ bedauerte Hanna.
„Das frage ich mich auch“, flüsterte Theresa mit zusammengepressten, blutlosen Lippen.
Durch den tosenden Regen leuchteten Blitze. Weit hinter Rakovnik schlug es mehrmals ein und der Donner
dröhnte, als wären schwere Eisentüren auf Granit geschleudert worden.
„Während des Aufstiegs waren wir so vergnügt“, erinnerte sich Hanna. Sie spürte, wie das Wasser in ihre Halbstiefel drang. „Die arme Frau Epich“, kam ihr sogleich in den Sinn. Mit blinzelnden Augen, aufeinander gepressten Lippen hetzten sie, den Körper gegen Wind und Regen gestemmt, bergab.
„Du bist an allem schuld, nur du wolltest auf die Burg“, warf ihr Theresa vor.
„Ich?“
Die Regentropfen trommelten auf den klobigen Schirm. „Komm schon, komm!“ Was, wenn der Blitz einschlägt?“
Sie bogen in die Zvonarska-Straße und waren in Sicherheit. Nur kurze Zeit, um Atem zu holen, rasteten sie. Die Anstrengung hatte sie zum Keuchen gebracht, es schien ihnen, jemand würge sie und zwänge sie in die Knie. Der Weg führte sie weiterhin abwärts. Die Markthallen mit den Kolonnaden, die Brücke über dem schäumenden Fluss, der Dom mit seinen Kuppeln, der Riesenschatten warf, alles ringsum lag wieder vor ihnen in der alten, gewohnten Ordnung. Der Regen prasselte auf den Asphalt des Marktplatzes nieder, auf dem glänzende Lichter spielten und dicke Tropfen silbern tanzten. Über ihn liefen zwei barfüßige Knaben, die sich mit der Zeitung, die der Wind zauste, so gut es ging, vor der niedergehenden Flut schützten. Theresa wandte sich an Hanna und sagte befriedigt: „Jetzt können wir Ursula und Fränzi eine Menge erzählen.“
Hanna nickte im dämmrigen Flur. Beide waren glücklich.

Aus: Lojze Kovacic: Kljuci mesta. - Ljubljana 1964, S. 95-109.
Originaltitel: Ljuba, umazana Ljubljana